Seiten

Donnerstag, 29. September 2011

„Morgen werden sie uns holen!“

Funprocep versucht Kinder von der Straße zu holen und sie langsam wieder in die Schule zu integrieren. Meist fehlt es ihnen an ganz grundlegenden Kompetenzen für ein harmonisches Schulleben, wie Respekt, Disziplin und Aufmerksamkeit. In sogenannten „círculos“ werden die Kinder von Lehrerinnen betreut. Nach circa 6 Monaten, so das Ziel, sollen sie dann wieder eine „normale“ Schule besuchen können.
Am Sonntag besuchte ich zum ersten Mal das Projekt in El Zulia. Mein Chef und ich spielten für eine Weile mit den Kindern. Besonders ein Mädchen hing immer an meiner Hand und wollte mit mir reden. Kurz bevor wir gingen fragte sie mich dann etwas, das ich zuerst nicht verstand.
Sie wollte Geld von mir haben. Ich erklärte ihr, dass ich da sei, um ihr und den anderen etwas beizubringen. Trotzdem war sie erstmal sauer. Das wird wohl für die nächsten Wochen nicht meine letzte schockierende Erfahrung gewesen sein.
Während unseres 45-minütigen Besuchs wurden kräftig Schläge ausgetauscht. Es flossen mehrmals Tränen und ein Junge verließ gekränkt den Unterricht. Die Mutter von José (dem Jungen, der immer wieder aggressiv wird) meinte, das liege wahrscheinlich an seiner frühen Kindheit. Damals habe ihre Schwiegermutter sie misshandelt und auch mit dem Messer bedroht. José habe das alles mit ansehen müssen.
Heute habe ich meine erste Unterrichtsstunde für Montag geplant und auf Zettel groß ein paar grundlegende englische Wörter geschrieben. Bis ich auf die Idee kam nachzufragen, ob überhaupt alle Kinder lesen können. Antwortet: Fast Keines!

------------------------------------------------------------------------------------------------
Der Morgen verläuft ruhig. Die Kinder machen ihre Aufgaben- spielen ein wenig.
Plötzlich schlägt die Stimmung vollkommen um. Acht Kinder fangen an bitterlich zu weinen. Ich verstehe erst überhaupt nicht was passiert ist. „Invasion. Invasion“- dieses Wort fällt immer wieder. Ich versuche zu trösten, aber mir ist es unmöglich die richtigen Worte zu finden, als ich erfahre, was gerade passiert.
Die Polizei hat die Familien von einem Flüchtlingscamp am Rande der Stadt (siehe Foto) aufgefordert bis 13 Uhr ihre Häuser zu verlassen. Alles was dann noch da ist wird abgerissen.
„Mi casa, mi casa“, schluchzt Marfi, die Jüngste von 6 Geschwistern (gerade erst 6 Jahre alt), immer wieder. Kinderaugen voller Verzweiflung. Ich muss mit aller Kraft meine Tränen zurückhalten.
Zusammen machen wir uns auf den Weg zu dem Feld, um nach den Eltern zu suchen. Polizisten auf Pferden beobachten im Schatten der Bäume die Situation. Ich folge den Kindern zu ihrer Hütte. Rechts und Links des Trampelpfades sind die Menschen bereits am Aufbrechen- holen die Holzpfähle aus dem Boden und rollen die Plastikplane zusammen.
Eine Hütte aus Lehm und Holz, zwei Betten für acht Personen- daneben ein „Herd“ mit offenem Feuer und einigen Fässern mit Wasser. Hier wohnen die Sechs. Unter anderem auch Marfi, die mich am ersten Tag nach Geld fragte, und José, der Junge, der immer wieder aggressiv wird. 
Marfi reicht mir einen Becher mit Saft, deutet auf die Polizisten in der Ferne und sagt: „Morgen werden sie uns holen!“


mein Chef und die 3 Lehrerinnen von El Zulia auf der Suche nach weiteren Kindern




das Flüchtlingslager

Der Fluss "El Zulia" auf dem Weg zur Arbeit


Montag, 26. September 2011

Cúcuta

Die Sonne verschwindet langsam hinter den Bergen im Westen, während ich auf dem Balkon des Büros im 8. Stock sitze. Eigentlich hätte ich heute nach Puerto de Santander fahren sollen, um die círculos dort zu unterrichten. Kurzfristig hat AFS Cúcuta aber entschieden, dass die Stadt an der Grenze zu Venezuela zu gefährlich ist (zumindest alleine). Stattdessen sitze ich nun also hier und höre und rieche die vielen Busse, Motorräder und Autos, die sich durch die Straßen der Innenstadt quetschen. Aber auch das hat seinen Charme!
Jede Großstadt braucht etwas beruhigendes. Chicago hat Lake Michigan. Cúcuta hat die Ausläufer der Anden. Wenn man nur in die Ferne guckt und den Trubel unten versucht zu vergessen, wirkt alles wirklich friedlich.
Trotzdem hätte ich heute gerne zum ersten Mal unterrichtet. Nach über einer Woche im Büro möchte ich endlich aktiv werden. Unser erster Besuch von Puerto de Santander hat mir, trotz der unglaublichen Hitze, sehr gut gefallen. Die Kleinstadt trennt nur ein Fluss mit der „puente international“ von Venezuela. Das BMZ (Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) hat Freiwilligen verboten in das Land einzureisen, weshalb dieser kurze Blick über die Brücke (siehe Foto) wohl meine nächste Bekanntschaft mit Venezuela gewesen sein wird. Vieles hier an der Grenze wird bzw. wurde von dem Nachbarn beeinflusst. Wörter, die aus dem venezolanischen Spanisch übernommen wurden, Gerichte usw.
Vor allem der Benzinhandel boomt. Die Gallone (Benzin) kostet in Bogotá circa 3,30€, in Cúcuta circa 1,40€ und in Venezuela nur 0,30€. Aber nun kommt mein Chef zur Tür herein. Morgen fahren wir nach El Zulia, um nach weiteren Kindern zu suchen, die nicht zur Schule gehen.
Blick vom Balkon des Büros

Blick vom Balkon des Büros 2

die Straße meiner Gastoma

auf der anderen Seite ist Venezuela

Freitag, 23. September 2011

Wenn man sich über Wolken freut- Der Papst ist Deutscher und ein Willkommen in der kostenlosen Sauna (vor 1 Monat..)

Frühmorgens begann am Sonntag die Reise zu unseren Gastfamilien und Projekten. Unser Koordinator hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass zu uns 15 Deutschen auch noch 15 überdimensional große Koffer kamen. Jedenfalls wurde der Minibus bis obenhin vollgepackt. Die Reise ging dann für vier unserer Gruppe von Bogotá nach Cúcuta weiter.
Im Flugzeug (wohlgemerkt voller Jugendlicher, die gerade vom Weltjugendtag in Madrid kamen) wurde ich wie selbstverständlich gefragt, ob ich katholisch oder protestantisch sei. Dies war meine erste, aber nicht letzte Erfahrung mit Religion an diesem Tag. Als ich nach dem Abendessen der Familie meine Gastgeschenke überreichte, wollte meine Gastmutter über die Fotos gebeugt wissen, wo der Papst genau herkomme. Zwar geht meine Familie hier nicht jeden Sonntag in die Kirche, aber es wird sich mit „La Bendición“ (was soviel wie Segen heißt) begrüßt. Und auch die Autos und Busse sind oft mit Sprüchen wie „dios es grande y poderoso“ beklebt.
Nun aber erstmal zu meiner Gastfamilie und Cúcuta.
Meine Gastmutter leitet Profamilia, eine Klinik, die zu der Dachorganisation Planned Parenthood gehört. Verhütung, Abtreibung, Schwangerschaft Minderjähriger, Krankheiten etc.- alles sehr schwierige Themen für eine tiefgläubige Gesellschaft. Nicht selten wird zum Beispiel eine 13/14-jährige, die vergewaltigt wurde, gezwungen das Kind zu bekommen. Und viele Schulen in kirchlicher Trägerschaft untersagen den Mitarbeitern/innen von Profamilia in den Unterricht zu kommen. Mein Gastvater arbeitet als Ingenieur von Gebäuden und Brücken und meine 15-jährige Gastschwester besucht ein kirchliches Gymnasium.
Am Montag nach unserer Ankunft stieg das Thermometer auf 42° Grad. Da hilft auch ein Ventilator im Zimmer nicht mehr viel. Nur wenige Fenster sind verglast, sonst sind die Häuser offen. Im Hinterhof befindet sich meist ein Waschtisch und eine Wäscheleine. Man duscht nur mit kaltem Wasser und das Tor vor dem Haus wird nachts immer abgeschlossen.
Meine Gastfamilie gehört zum Mittelstand. Das bedeutet in Kolumbien auch, dass sie sich eine Haushaltshilfe leisten können, die täglich zum Waschen (mit der Hand!), Kochen und Putzen kommt. So eine „Angestellte“ verdient pro Tag umgerechnet circa 5€!
Überhaupt ist der Arbeitsmarkt hier ein ganz anderer. Die Arbeitslosigkeit in Cúcuta liegt bei circa 15%, aber von den restlichen 85% arbeiten circa 40% „informell“ (ohne Sozialversicherung etc.). So zum Beispiel die zahllosen „fliegenden“ Verkäufer, die aus dem Straßenbild nicht wegzudenken sind.
Meine Gastschwester arbeitet Freitagnachmittags in einem Kindergarten für jene „vendedores ambulantes“ (Straßenverkäufer). Die Gebühren sind gering oder werden komplett erlassen, damit die Kinder nicht den ganzen Tag mit ihren Eltern auf der Straße verbringen.
In Kolumbien klafft eine riesige Schere zwischen arm und reich. Die Gesellschafft lässt sich in 6 Einkommensniveaus einteilen (6= am höchsten). Während meine Gastfamilie sich zum Niveau 4 zählt, leben circa 40% aller Kolumbianer in Armut (Niveau 1 und 2). Davon werde ich bald noch mehr zu berichten haben...


Max, Inken und ich auf dem Weg zum Flughafen

"Gott ist groß und mächtig"- an einer Busscheibe

Arepa zum Frühstück

meine Gastschwester Paula (links), meine Gastcousine Aura und ich

das Haus

mein Zimmer

Freitag, 9. September 2011

Eine Busfahrt, die ist lustig, eine Busfahrt, die ist schön...?

Auch wenn das Büro von funprocep in der Innenstadt liegt, meine Hauptaufgabe besteht darin die Kinder der „círculos“ (dazu bald mehr) in verschiedenen Städten in Englisch zu unterrichten. Also sitze ich nun im Bus zu einem colegio in El Zulia.
Die Fahrt gerät immer wieder ins Stocken. Diesmal, weil in einer Nebenstraße ein Motorradfahrer verunglückt ist und eine „Gaffer-Menge“ den Weg blockiert. Das einzige Risiko hier scheint bisher wirklich der Verkehr zu sein. Über 70% der Haushalte besitzen ein Moped oder Motorrad, was sich deutlich im Straßenbild bemerkbar macht.
Ich wurde schon mehrmals gefragt, was man denn in Deutschland von Kolumbien denken würde und ich habe versucht immer ehrlich zu antworten...Dass die meisten vor allem an Drogen, Krieg, FARC und Paramilitärs denken, aber auch an Kaffee, Bananen und offene, herzliche Menschen. Das erntet meist traurige Gesichter. Worauf ich (absolut aufrichtig) beteuere, dass die vielen Vorurteile natürlich nicht der Wahrheit entsprechen.
Neben mir räuspert sich jetzt gerade ein Mann. „Deutsche?“ „Ja!“ Welch ein Zufall. Herr Rodriguez (so heißen hier gefühlt 60% aller Leute) hat im letzten Jahr an seiner Schule mit einem deutschen Freiwilligen gearbeitet. Schnell schweift das Gespräch ab zu Themen wie Familie, Beziehungen, Alltagsproblemen. Wichtige Grundregel hier: Als Deutsche/r darf man sich von der Intimität von „Smalltalk“ nicht abschrecken lassen! Von dem siebzig-jährigen fremden Sitznachbarn z.B. gefragt zu werden, ob man denn einen Freund habe, ist ganz normal.
Die Fahrt geht weiter aufs Land...verfallene Hütten, eine Kohlefabrik und ein Steinbruch. Kohle ist das erste Exportprodukt der Region und schafft viele Arbeitsplätze. Von Filtern wird hier allerdings nicht viel gehalten. Gestern war das ganze Haus voller schwarzer „Blätter“. Da war ich schon ein wenig geschockt, als meine Gastmutter mir erklärte, dass das Kohlereste von der örtlichen Fabrik seien. Ein Nachteil von Häusern ohne Glasfenster.
Die Büsche sind gedrungen, die Erde gelblich-braun und staubig. Es hat schon lange nicht mehr geregnet. Kolumbien- eins der Länder mit den größten Wasserreserven der Erde- hat auch mit dem Klimawandel zu kämpfen.
Immer wieder Häuser mit kleinen Läden, die irgendetwas verkaufen. Die Straße wird einspurig auf Grund von Bauarbeiten. Bis Dezember soll hier alles ausgebaut sein. Dann: Reisfelder und- das was ich erst für Äste hielt- Zuckerrohr! An der Exotik dieser Landschaft kann ich mich gar nicht satt sehen.
Ankunft in El Zulia und feuchte Hitze, die mich mal wieder fast erschlägt!
Ich freue mich jetzt schon auf die Dusche am Abend, aber die liegt noch in weiter Ferne!
(PS.: Meine Hypothese über den Verkehr werde ich weiterhin beobachten.)

El Zulia



Zuckerrohr