„Der Mensch lebt nicht wie er denkt, sondern denkt wie er lebt!“
Die Natur holt sich die Straßen zurück. Da hilft auch kein Springen mehr. Morgens bin ich 5 min auf dem Bürgersteig auf- und abgelaufen, um schließlich festzustellen, dass schlicht kein trockenes Hinüberkommen möglich war.
Bis über die Fußknöchel steht eine bräunlich, graue Brühe in den Straßen. Während dieser Stunden ist der Verkehr noch schlimmer. Ein Krankenwagen kommt von hinten- der Verkehr legt einfach ein paar kmh zu und ein Motorradfahrer überholt auch noch.
Ich bin auf dem Rückweg von El Zulia und habe, dank Stau, Zeit den Tag Revue passieren zu lassen.
Nachmittags sind wir mit den Kindern einen Jungen des círculos besuchen gegangen. José ist vor einer Woche von einem Baum gefallen und hat sich innere Organe geprellt- ein Monat strikte Bettruhe. Durch den „pueblo“ (Ortschaft) ging es zu „La colina“ (Hügel), dem Armenviertel der Kleinstadt. Wir betraten eine Hütte mit Lehmwänden und festgestampfter Erde als Fußboden, wie so oft fehlte aber kein Fernseher. José lag ein wenig abgemagert und müde dreinschauend auf einem der drei Betten. Neugierig begutachteten die anderen Kinder die Röntgenbilder seines Bauches. Wir ließen ihm ein paar Bücher und die Pasteles vom Frühstück da und verabschiedeten uns nicht ohne seine 10-monatige Schwester kurz auf den Arm zu nehmen.
In Deutschland wird sich ständig über die Schule beschwert. Hier sehe ich welchen Wert Bildung haben kann. Es ist wie ein kleiner Kampf. Einige Kinder kommen nun regelmäßig andere, fehlen ab und an eine Woche. Jeder bringt seine ganz persönliche Geschichte mit- meist zu schwer für einen Kinderrücken.
Eines der älteren Mädchen hat Drogen genommen und wird nun bedroht. Wir bringen ihr die Aufgaben, weil sie das Haus nun erstmal nicht verlassen kann.
Eine 12-jährige schreibt zu „cuento de mi vida“ (Geschichte meines Lebens): „Mein Leben war schön. Eines Tages suchte ich meinen Vater, um ihn zum Mittagessen zu holen. Er lag auf dem Boden und bewegte sich nicht. Ich lief zu meiner Schwester und sagte ihr, dass Vati tot sei. Sie glaubte mir nicht...“
Ich laufe durch die Pfützen und muss an zwei Zitate von Marx denken, die ich am Morgen gelesen habe: „Der Mensch lebt nicht wie er denkt, sondern denkt wie er lebt!“ und „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“ Die Kinder aus El Zulia sind Opfer ihrer Umstände. Wir alle sind zu großen Teilen abhängig von unseren Lebensverhältnissen und davon wie unsere Familie und die Gesellschaft uns behandeln. Wachsen wir behütet, in relativem Wohlstand auf, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir die Möglichkeit haben unsere Persönlichkeit zu entfalten. Erfahren wir hingegen von Kindesalter an Gewalt, leben in Armut und ohne Perspektiven, bleibt uns diese Chance verwehrt. Hier zeigt sich wie wichtig es ist, dass Eltern einen Wert in Bildung sehen und ihr Kind unterstützen. Wenn man aber selbst nie eine Schule besucht hat und an die täglichen Grundbedürfnisse der Familie denkt, ist Schulbildung oft zweitrangig. Dieser Teufelskreis wiederholt sich über Generationen.
Ein Junge des „círculos de aprendizaje“ (Lernkreis) ist 15 Jahre alt und beendet nun die 1. Klasse. Die Lehrer bescheinigten ihm mit 6 eine Lernschwäche, worauf seine Mutter ihn einfach aus der Schule nahm: „Er könne ja doch nicht lernen.“ Viele der anderen Jungen wurden aufgrund von Fehlverhalten von der Schule suspendiert. In Deutschland besuchen diese Kinder dann eine Sonderschule, hier fallen sie vollkommen aus dem System- werden vergessen.
Für uns ein notwendiges Übel, ist Bildung hier der einzig, mögliche Weg aus der Armut und garantiert doch nicht eine bessere Zukunft. Die Zahlen sprechen für sich: 45,5% der Kolumbianer leben in Armut. Knapp 58% zählen zur Unterschicht (die Oberschicht besteht aus 3,29%).
Was diese Kinder brauchen ist eine Chance- Initiativen wie der „círculo de aprendizaje“ können hier den ersten Schritt bedeuten! Ende Januar ist das Projekt beendet und alle werden hoffentlich wieder zur örtlichen Schule gehen.
Es heißt nicht ohne Grund: Kinder sind die Zukunft. Wenn Kolumbien eine Zukunft haben will, muss es sich um diese Kinder kümmern.
Fest am Tag des Kindes |
La Colina |