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Sonntag, 27. November 2011

«El hombre no vive como piensa, si no que piensa como vive!»

 „Der Mensch lebt nicht wie er denkt, sondern denkt wie er lebt!“
Die Natur holt sich die Straßen zurück. Da hilft auch kein Springen mehr. Morgens bin ich 5 min auf dem Bürgersteig auf- und abgelaufen, um schließlich festzustellen, dass schlicht kein trockenes Hinüberkommen möglich war.
Bis über die Fußknöchel steht eine bräunlich, graue Brühe in den Straßen. Während dieser Stunden ist der Verkehr noch schlimmer. Ein Krankenwagen kommt von hinten- der Verkehr legt einfach ein paar kmh zu und ein Motorradfahrer überholt auch noch.
Ich bin auf dem Rückweg von El Zulia und habe, dank Stau, Zeit den Tag Revue passieren zu lassen.
Nachmittags sind wir mit den Kindern einen Jungen des círculos besuchen gegangen. José ist vor einer Woche von einem Baum gefallen und hat sich innere Organe geprellt- ein Monat strikte Bettruhe. Durch den „pueblo“ (Ortschaft) ging es zu „La colina“ (Hügel), dem Armenviertel der Kleinstadt. Wir betraten eine Hütte mit Lehmwänden und festgestampfter Erde als Fußboden, wie so oft fehlte aber kein Fernseher. José lag ein wenig abgemagert und müde dreinschauend auf einem der drei Betten. Neugierig begutachteten die anderen Kinder die Röntgenbilder seines Bauches. Wir ließen ihm ein paar Bücher und die Pasteles vom Frühstück da und verabschiedeten uns nicht ohne seine 10-monatige Schwester kurz auf den Arm zu nehmen.

In Deutschland wird sich ständig über die Schule beschwert. Hier sehe ich welchen Wert Bildung haben kann. Es ist wie ein kleiner Kampf. Einige Kinder kommen nun regelmäßig andere, fehlen ab und an eine Woche. Jeder bringt seine ganz persönliche Geschichte mit- meist zu schwer für einen Kinderrücken.
Eines der älteren Mädchen hat Drogen genommen und wird nun bedroht. Wir bringen ihr die Aufgaben, weil sie das Haus nun erstmal nicht verlassen kann.
Eine 12-jährige schreibt zu „cuento de mi vida“ (Geschichte meines Lebens): „Mein Leben war schön. Eines Tages suchte ich meinen Vater, um ihn zum Mittagessen zu holen. Er lag auf dem Boden und bewegte sich nicht. Ich lief zu meiner Schwester und sagte ihr, dass Vati tot sei. Sie glaubte mir nicht...“
Ich laufe durch die Pfützen und muss an zwei Zitate von Marx denken, die ich am Morgen gelesen habe: „Der Mensch lebt nicht wie er denkt, sondern denkt wie er lebt!“ und „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“ Die Kinder aus El Zulia sind Opfer ihrer Umstände. Wir alle sind zu großen Teilen abhängig von unseren Lebensverhältnissen und davon wie unsere Familie und die Gesellschaft uns behandeln. Wachsen wir behütet, in relativem Wohlstand auf, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir die Möglichkeit haben unsere Persönlichkeit zu entfalten. Erfahren wir hingegen von Kindesalter an Gewalt, leben in Armut und ohne Perspektiven, bleibt uns diese Chance verwehrt. Hier zeigt sich wie wichtig es ist, dass Eltern einen Wert in Bildung sehen und ihr Kind unterstützen. Wenn man aber selbst nie eine Schule besucht hat und an die täglichen Grundbedürfnisse der Familie denkt, ist Schulbildung oft zweitrangig. Dieser Teufelskreis wiederholt sich über Generationen.
Ein Junge des „círculos de aprendizaje“ (Lernkreis) ist 15 Jahre alt und beendet nun die 1. Klasse. Die Lehrer bescheinigten ihm mit 6 eine Lernschwäche, worauf seine Mutter ihn einfach aus der Schule nahm: „Er könne ja doch nicht lernen.“ Viele der anderen Jungen wurden aufgrund von Fehlverhalten von der Schule suspendiert. In Deutschland besuchen diese Kinder dann eine Sonderschule, hier fallen sie vollkommen aus dem System- werden vergessen.
Für uns ein notwendiges Übel, ist Bildung hier der einzig, mögliche Weg aus der Armut und garantiert doch nicht eine bessere Zukunft. Die Zahlen sprechen für sich: 45,5% der Kolumbianer leben in Armut. Knapp 58% zählen zur Unterschicht (die Oberschicht besteht aus 3,29%).
Was diese Kinder brauchen ist eine Chance- Initiativen wie der „círculo de aprendizaje“ können hier den ersten Schritt bedeuten! Ende Januar ist das Projekt beendet und alle werden hoffentlich wieder zur örtlichen Schule gehen.
Es heißt nicht ohne Grund: Kinder sind die Zukunft. Wenn Kolumbien eine Zukunft haben will, muss es sich um diese Kinder kümmern.


Fest am Tag des Kindes









 
 

La Colina

Montag, 21. November 2011

Flucht in die Berge

Über Schokolade auf Wasserbasis, verrückte Preise und kolumbianische Herzlichkeit

Ein Käfer, eine Käfer! Schnell, gleich ist er weg! Mit gezückter Kamera in der einen und Regenschirm in der anderen laufen wir durch den Regen, dem Objekt unserer Begierde hinterher, welches gerade zum losfahren ansetzt. Seine Insassen, zwei freundliche Kolumbianer, halten an und laden uns zu einer kleinen Testfahrt ein, die mit einer Tasse Tee in ihrem Haus endet - ein typisches Beispiel kolumbianischer Herzlichkeit und Gastfreundschaft.
An diesem Wochenende in Pamplona, einer kleinen Bergstadt 1 ½ Stunden von Cúcuta entfernt, blieb diese Begegnung nicht die letzte ihrer Art.
In der Markthalle konnten wir uns an der Auswahl an Gemüse und exotischen Früchten gar nicht satt sehen und unsere Euphorie, diese alle einmal probieren zu können, ging auch an den kolumbianischen Verkäuferinnen nicht spurlos vorüber. Lächelnd fragte man uns, woher wir denn kämen und so kam man (wie immer) ins Gespräch.

Bei der Erwähnung des Ursprungsortes unserer kleinen Reise, Cúcuta, bedachte man uns jedes Mal mit einem mitleidvollen „Heiß oder?“. Und tatsächlich waren die geschätzten 16 Grad für die zwei deutschen Cúcutenierinnen unter uns eine kleine Herausforderungen, sodass unsere ausgiebigen Spaziergänge regelmäßig in der Panaderia bei Kaffee und Gebäck endeten. Selbstverständlich machten wir auch dort neue Bekanntschaften. Die Besitzerin stellte sich uns als ehemalige AFS Gastmutter einer US-Amerikanerin vor - die Welt ist eben klein, vor allem die AFS Welt!

Bei heißer Schokolade auf Wasserbasis wärmten wir uns wieder auf und mussten feststellen, dass man in diesem Land unserer Bitte nach getrennter Bezahlung nur sehr ungern nachkommt. Mit dem Gefühl ein Vermögen ausgegeben zu haben, stellte sich bei der Endabrechnung dann doch alles als sehr günstig heraus. Fazit: Auch nach fast 3 Monaten fehlt uns noch immer das Gefühl für kolumbianische Pesos.

Ausgaben
Preis in COP
Preis in EUR
Transport und Übernachtung


Busfahrt Cúcuta – Pamplona
12.000
4,60
Übernachtung Hotel pro Person
20.000
7,60

Busfahrt zum Christo Rey
700
0,26




Verpflegung


Tasse Kaffee
1.500
0,57
Croissant
200
0,08
Pastel mit Hähnchenfleisch
2.000
0,80
Mittagessen im Restaurant
10.000
3,80


Unser Wochenendausflug nach Pamplona endete mit einer Fahrt zum „Christo Rey“ (eine Jesus Statue auf irgendeinem Berg fehlt hier in den wenigsten Städten). Glücklicherweise hatten wir die letzten fünf Minuten ohne Nebel abgepasst. So bot sich uns ein atemberaubender Ausblick. Vor dem Panorama der im Nebel verschwindenden Stadt graste eine Herde Schafe. Auch wenn Pamplona nur wenige Sehenswürdigkeiten bietet ist die Ruhe und Freundlichkeit, die diese Kleinstadt ausstrahlt unglaublich entspannend. Die Flucht aus dem Großstadttrubel (Bogotá/ Cúcuta) hat sich also wirklich gelohnt.

Wie die Hinfahrt, bot auch die Rückfahrt im Kleinbus reichlich Nervenkitzel, weil der strömende Regen die schmale, kurvige Bergstraße zuweilen nahezu unpassierbar machte. Aber trotz allem kamen wir wie immer sicher an.


Saludos, 
Lukas & Jana





Montag, 7. November 2011

Ser un niño


ser un niño es,
tener entre sus vestidos
tesoros y algún misterio,
soñar con ser tan grande
poder alcanzar el cielo!
Volar como los aviones,
navegar en algún crucero...
ser un niño es
tener en la tierra el cielo
contender grandes batallas
y que nadie resulte muerto...
ser un niño es
el amor más puro y sincero,
es adivinarme el pensamiento
con solo buscar mis ojos,
mis ojos que están muy quietos
y sentir con sus tiernas manos
todos los dolores que adentro
llevo...
(Autor unbekannt)

Ein Kind zu sein

Ein Kind zu sein
bedeutet zwischen seinen Kleidern
Schätze und Geheimnisse zu verbergen
davon zu träumen so groß zu sein,
dass man den Himmel berühren kann!
Wie ein Flugzeug zu fliegen
und ein Schiff zu steuern
Ein Kind zu sein
bedeutet auf der Erde den Himmel zu haben
große Kämpfe zu beschreiten
aus denen niemals Tote hervorgehen
Ein Kind zu sein
bedeutet reine, aufrichtige Liebe
bedeutet Gedanken zu lesen
nur durch einen Blick in die Augen
(Augen die sehr ruhig sind)
und mit seinen zärtlichen Händen
alle Schmerzen im Innern
vergessen zu machen.

Spanischlehrerin? Das ist ein Witz, oder?


30 Augenpaare die mich erwartungsvoll angucken. Ich suche noch verzweifelt nach einem Lehrer, der sich ja in irgendeiner Ecke versteckt haben könnte. Aber nein, meine Befürchtung wird Gewissheit...aus „du stellst dich vor und begleitest eine Lehrkraft“ ist „du ersetzt eine fehlende Lehrkraft“ geworden. Nun bin ich noch in der Lage spontan eine Englischstunde zu gestalten, aber bei 3 Stunden ohne Material bin auch ich mit meinem Latein am Ende.
Als ich auf meinem Stundenplan sehe, dass ich nicht nur für Englisch, sondern auch für Ethik in der 6. und Lengua castellana (Spanisch) in der 7. und 8. Klasse eingeteilt bin, muss ich erstmal lachen- Galgenhumor.
In den folgenden Wochen sehen meine Tage wiefolgt aus:
4 Uhr        Aufstehen
6-12 Uhr   Unterricht
13:30 Uhr  mit dem Bus zum Asilo Andresen
16:30 Uhr  Feierabend und Unterricht vorbereiten

Von Stunde zu Stunde schwanke ich zwischen Verzweiflung und Begeisterung. Wenn ich es schaffe die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen, wenn sie anfangen nachzudenken und interessiert sind, hat sich die Arbeit gelohnt. In Ethik spreche ich über Freiheit und die Frage „Warum bin ich ich?“. In Spanisch diskutieren wir über Moral und Werte. Wenn ich nicht genau wüsste, was ich studieren möchte, könnte ich in solchen Stunden fast damit liebäugeln Lehrerin zu werden. Aber dann gibt es wiederum Tage, in denen ich die Kinder einfach nicht zur Ruhe bringen kann.
Wenn ich anderen erzähle in welchem Colegio ich arbeite, kommt meistens ein verständliches: „Ah colegio Inem...schwierig“. In Kolumbien besuchen fast alle Kinder, deren Eltern es sich leisten können, eine Privatschule. Die Öffentlichen sind meist soziale Brennpunkte ohne die nötigen Ressourcen (mit wenigen Ausnahmen). Das Niveau der Schüler, einer Gesamtschule entsprechend, schwankt extrem. INEM besuchen Kinder sämtlicher sozialer Schichten. Manche arbeiten nachmittags als „vendedores ambulantes“ (Straßenverkäufer). Kein Wunder also, wenn einige so erschöpft sind, dass sie keine Lust haben zu lernen.
Aus meiner 6. Klassen sind 15 Kinder „retirados“.
Ich frage verblüfft nach, was das heißt.
„Na, die kommen nicht mehr!“
„Warum?“
„Haben keine Lust zu lernen.“
„Aber es gibt doch eine Schulpflicht?“
„Die bleiben einfach Zuhause und den Eltern ist es egal.Der eine arbeitet jetzt als Fischverkäufer.“
Schulpflicht ist also das eine. Schulpflicht auch durchzusetzten das andere. Als ich in meiner 6. Klasse von Deutschland erzähle, frage ich jeden Einzelnen:
„Wer ist die wichtigste Person in deinem Leben?“.
Fast immer bekomme ich dieselbe Antwort.
„Meine Mutter. Mein Vater. Meine Mutter...“
„Meine Tochter!“
Habe ich mich verhört?
Ich frage erneut nach.
Das Mädchen streicht über ihren Bauch.
Zumindest finde ich später heraus, dass sie nicht wie ihre Klassenkameraden 13 oder 14 Jahre alt ist, sondern 16. Doch die fehlenden fünf Jahre bis zum Bachillerato (Abitur) wird sie wohl kaum beenden.
Ich beende mit gemischten Gefühlen diese 3 Wochen als Vollzeitlehrkraft.